(aus “ Vault of Horror” Nr. 27, im Oktober 1952 von EC Comics veröffentlicht)
Der Erzähler der letzten Geschichte in diesem Heft ist die Old Witch, und sie präsentiert uns zur guten Nacht ein Märchen.
Es war einmal ein kleines Königreich. Das wurde von einer schlimmen Rattenplage heimgesucht. Die Ratten waren überall und sie machten sich über den Müll her, die Lebensmittel – und selbst über die Menschen. Also rotteten sich die Städter zusammen, ergriffen Schwerter, Äxte und Keulen und töteten die Ratten.
Allerdings hatten sie die Rechnung ohne ihr Königspaar gemacht. Denn das lebte in einem Schloss, umgeben von einem mächtigen Wassergraben, über welchen die Ratten nicht hinüberkonnten. Also war dem weltfremden Herrscherpaar das Elend ihrer Untertanen herzlich egal.
Die Königin schwärmte sogar für ein paar zahmer weißer Mäuse, welches ihre liebsten Haustiere waren. Als sie vernahm, dass in der Stadt Ratten gejagt würden, fand sie dies unnötig und grausam und dekretierte ein Verbot der Rattenjagd. Diese standen nun unter ihrem hochherrschaftlichen Schutz und konnten sich wieder ausbreiten. Und wieder machten sich die Ratten über den Müll her, die Lebensmittel, selbst über die Menschen.
Den Städtern aber kam die Galle hoch und sie marschierten ins Schloss. Dort ergriffen sie das hochmütige Herrscherpaar und statuierten an ihnen ein schreckliches Exempel. Sie zwangen sowohl dem König wie auch der Königin eine hungrige Ratte in den Schlund – und vernähten den Unglücklichen hernach die Münder!
Dieses nicht Grimmsche, sondern grimme Märchen ist ein genialer Schachzug des Autoren Al Feldstein. Das Transportieren herber Inhalte in die Fabelwelt des „Es war einmal“ gestattet sämtliche Freiheiten (die Zeichner Graham Ingels äußerst dezent und diskret nutzt).
Abgesehen von vielen fetten, riesigen und wieseligen Ratten sehen wir Gewalt gegen Personen nur im Schatten ablaufen. Das grausige Finale spielt sich in der Fantasie der Leser ab. Schockierend ist einzig der faktisch brutale Schlusssatz der Geschichte: „Die Menge johlte, als sich die halbverhungerten Ratten Stückchen für Stückchen ihren Weg aus dem blasierten König und der blasierten Königin hinausfraßen“.
Der Märchenerzähltrick erwies sich als so dankbar für Zeichner und Autoren, dass „A Grim Fairy Tale!“ der Auftakt einer Reihe von 14 weiteren EC-Geschichten unter dem Label „Grim Fairy Tale“ wurde, die mehr oder weniger auf Märchenstoffen oder märchenartigen Versatzstücken fußen.
Diese erste, original „A Grim Fairy Tale!“ betitelte Geschichte gilt bei vielen Fans als Meilenstein in ECs Horrorschaffen und als eine der besterinnerten Stories.
Sie ist einfach wunderbar klar und simpel: eine Rattenplage, die vom dünkelhaften, dem Volk entrückten Herrscherpaar erst nicht ernstgenommen, dann sogar befeuert wird, schließlich Volkes Zorn hervorruft und in der ironisch-grausigen Bestrafung der Tyrannen mündet.
Der Erzählduktus des Märchens tut sein übriges, und Feldsteins geschickte, gebetsmühlenhafte Klassifizierung des König als „the pompous king“ und der Königin als gleichgesinnte „the pompous queen“ entfacht einen rhythmischen Sog, der diese moralischen Verlierer vom Start weg dem Verderben überantwortet.
Überraschend humorlose Geschichte (selbst die Old Witch enthält sich ihrer üblichen Kalauer) – deshalb ist es eben „A Grim Fairy Tale!“.
Nachtrag: Der US-Comic-Blogger „Pappy“ hat diese Geschichte in der farbigen Version unter diesem LINK veröffentlicht. Da könnt ihr euch mal was Komplettes von EC anschauen. Bitte runterscrollen zur zweiten Geschichte. Davor läuft noch eine Ingels-Ganstergeschichte von 1948…