Comics unter dem Code

Wie andernorts schon erwähnt, griff der Comicindustrie um den Jahreswechsel 1954/55 herum eine Macht ins Rad, die die Inhalte der Hefte brutal beeinflusste. Die Prüfer der Zensurbehörde „Comics Code Authority“ bekamen jeden Comic vor Veröffentlichung vorgelegt und achteten penibel darauf, dass gewisse Restriktionen eingehalten wurden.

Der Comics Code verbat sich nicht nur blutige Gewaltdarstellungen und das Auftauchen von Zombies, Vampiren und Werwölfen, sondern retuschierte auch Waffen aus den Bildern heraus, bereinigte sprachliche Saloppheiten, zog Dekolletes in die Höhe und achtete überhaupt auf ein manierliches Auskommen zwischen den Geschlechtern.
Unvorstellbar wurden Geschichten, die noch ein Jahr zuvor ein Gros der Hefte bestückt hatte. Mörderische Beziehungsdreiecke, reißerische Räuberpistolen oder tödliche Ausflüge nach Transsylvanien gehörten für die nächsten zehn Jahre der Vergangenheit an.
Von den rund zwei Dutzend Horrorverlagen, die 1954 noch aktiv waren, waren ganze drei im Jahre 1956 noch mit einem weichgespülten Gruselangebot auf dem Feld: die American Comics Group (ACG), DC und Atlas.

„Ach, komm!“, werden Sie, liebe Leser, jetzt sagen. So dramatisch kann das doch alles gar nicht gewesen sein. Dann veröffentlicht man eben ein paar Thriller- oder Spukgeschichten, geht doch auch.
Irrtum! Es handelte sich um einen einschneidenden Paradigmenwechsel. Wie einschneidend, will ich einmal an einer Atlas-Beispielgeschichte aus dem Dezember 1955 erläutern.

„The Frozen Food“ (SPELLBOUND Nr. 25)

Betrachten wir zunächst das Titelbild dieser Ausgabe – oben rechts prangt prominent das Bestätigungs-Siegel „approved by the comics code authority“ (hat die Zensur durchlaufen). Hefte ohne Siegel wurden am Kiosk nicht ausgelegt, das war die ökonomische Daumenschraube, die den Verlegern angelegt worden war.

Das Cover ist bereits eine pure Verlegenheitslösung. Das Heft verspricht Mystery („Stories to hold you SPELLBOUND“ – etwa: Geschichten, die dich in den Bann schlagen), darf aber keine Mystery darstellen. Deshalb schauen wir auf einen etwas gebückt dastehenden Kerl in grünem Anzug, der sich eine Sonnenbrille vom Kopf gezogen hat. Das erschreckt offensichtlich einige Passanten. Der Betrachter dieses Titelbildes ist angehalten, aus seiner eigenen Phantasie heraus eine Bedrohung zu konstruieren.

In Pre-Code-Zeiten wären Macher und Konsumenten vor Lachen unter den Tisch gefallen, hätte man ihnen so ein Cover vorgehalten. Amerikaner bezeichnen ein solches Motiv als „lame“. Lahmarschig, dröge, irgendwie peinlich auch. Es kommt noch schlimmer.

Gehen wir Geschichte Nummer Fünf (die letzte in SPELLBOUND Nr. 25) durch. Sie heißt „The Frozen Food“, die Tiefkühlnahrung. Wie bitte?! Oja! Die Tiefkühlnahrung.

Es beginnt durchaus klassisch. Ein Ehepaar liegt in erbittertem Streit. Die Tiefkühltruhe im Keller wurde geplündert, die Frau gibt sich ahnungslos. Der Mann stürmt wütend aus dem Haus.
Der Gruselkenner denkt sich: Nanu, komischer Aufhänger, aber gleich wird die Frau zerstückelt und (wie es sich gehört) in der Truhe entsorgt werden. Pustekuchen!

Stattdessen schiebt der Mann einen Kontrollkomplex vor sich her, denn erneut wird die Tiefkühlnahrung auf mysteriöse Weise entwendet. Jetzt stellt der Mann seiner Frau eine Falle, er legt sich nachts neben der Truhe im Keller auf die Lauer.
Der Gruselkenner denkt sich: Nanu, hat der Vogel sonst keine Sorgen? Aber da geschieht etwas! Geräusche ertönen aus der Truhe. Aha, Ratten oder Monster aus dem Erdinnern greifen an. Mitnichten!

Der Mann entdeckt zunächst mal – nichts. Dann einen unterirdischen Gang, was geht denn hier ab? Wie Alice durch den Kaninchenbau hinabsteigt, gerät der Mann in eine wundersame Parallelwelt.
Der Gruselkenner denkt sich: Nanu, komische Entwicklung, aber gleich wird’s bitterernst. Die Unholde aus dem Erdinnern werden erst den Mann, dann seine Frau verspeisen und hernach die Welt erobern. Von wegen!

Putzige, harmlose, geschlechtslose Zwerglein, die ausschauen wie aus der Pharmawerbung entsprungen, hocken beim gemütlichen Picknick mit Tiefkühlnahrung und labern einen Gutmenschensalbader daher, der jedes Pfadfindertreffen auf das Niveau von Krawalltagen hebt.
Der Gruselkenner denkt sich: Nanu, mir wird so komisch. Aber gleich stellen sie den Mann und werden ihn zerreißen, das kann ja nur teuflische Fassade sein. Weit gefehlt!

Die Pharmazwerge wollen ihn bei sich aufnehmen und versprechen ihm ewiges Glück?!

Das rührt den Mann dermaßen, dass er schlagartig vom Miesepeter zum Sunnyboy wird?!

Im Keller hört er sein Weib vor der Tiefkühltruhe schluchzen und kann plötzlich ihre Gedanken lesen?!

Diese Gedanken gelten seiner Liebe?!

Der Mann springt aus der Truhe in die Arme seiner sehnsüchtigen Frau?!

Schlussbild: Sie küssen sich. Sie küssen sich?! Sie küssen sich!

Der Gruselkenner denkt sich: Wohin bitte kann ich mich hier mal rasch übergeben?

Das ist ein Horror, wie ich ihn tatsächlich nie erwartet hätte. Alles in allem ist „The Frozen Food“ so etwas wie eine Heile-Welt-Disney-Parodie auf den Precode-Horror. Und darin ist sie wahrhaft erschreckend.

(Klicken Sie jetzt bitte schnell woandershin weiter. Denken Sie nicht länger über diese Geschichte nach! Dies kann zu bösen Schwindelanfällen führen! Vielen Dank für Ihr Verständnis.)