(eine schockierend persönliche Beichte von unserem Herausgeber)
Ich war ein schlimmer Comic-Nerd. Mehr in Parallelwelten unterwegs als ich selber wahrhaben wollte. Die Abgangszeitung meiner Schule jedenfalls spottete über mich: „Sein bester Freund ist Donald Duck“ – und das war absolut korrekt.
Meine Freunde hießen jedoch nicht nur Donald Duck und Asterix, sondern auch Tim und Struppi, Spirou, Alfred E. Neumann, Andy Morgan, Arzach, Krazy Kat, Little Nemo und The Spirit. Mit 19 Jahren hatte ich nicht nur den deutschen Markt abgegrast, nicht nur alle greifbare Sekundärliteratur über Comics verschlungen, ich importierte auch fleißig Comichefte aus dem Ausland. Das ging über Spezialbuchversande, die noch per Nachnahme an der Haustür kassierten – darunter übrigens der Kölner „Taschen“-Verlag, der heute teure Kunstbände produziert (und immerhin seine Anfänge als kleine Comicklitsche hinterm Neumarkt nicht verleugnet, siehe deren Webseite www.taschen.com, Rubrik „Über uns“).
Die Lektüre von US-Comics verschaffte mir brillante Englischkenntnisse (was habe ich als Schüler freiwillig Vokabeln gepaukt!) und öffnete meinen Horizont für die globale Kunst des Comic. Sehnsüchtig begehrte ich die (preislich nahezu unerschwinglichen) Bände aus Russ Cochran’s „Complete EC Library“, die ab 1979 herauskamen. Tagelang wälzte ich den „Overstreet Comic Book Price Guide“ und notierte mir, welche Zeichner wie oft in welchen Heftserien vertreten waren. Pro Schuber kosteten diese fabelhaften 50er-Jahre-Nachdrucke in überformatigem Schwarz-Weiß an die 250 DM – eine Rieseninvestition für einen Schüler! Ich entschied mich für THE CRYPT OF TERROR, kratzte das Geld zusammen, bestellte und lauerte anschließend wochenlang auf den Paketpostboten.
Kaum eingetroffen, hatte ich noch mehr englische Vokabeln zu lernen: „strange“, „weird“, „insane“, „sickening“, „corpse“, „coffin“, „cauldron“, „repulsive“, „fiend“, „brain“ oder „evil“ waren wichtig. Seitdem war ich ein Fan der Entertaining Comics aus New York. Knapp 30 Jahre später besitze ich eine komplette „Complete EC Library“ und liebe es in diesen herrlichen Prachtbänden zu schmökern. Tatsächlich habe ich im Frühjahr 2010 mein Fachwissen zusammengenommen und einen Eintrag für die deutsche Wikipedia geschrieben (siehe dort, Stichwort „EC Comics“). Da ich nicht lexikalisch schreiben kann, findet sich dort nur eine „verstümmelte“ Fassung. Der vollständige Essay mit Gags, Anekdoten und persönlichen Wertungen findet sich auf der Seite „EC Comics“ (siehe Menüleiste).
Die Begeisterung für EC allein erklärt noch nicht den Abstieg in die Welt des nostalgischen 50er Jahre-Horrors. Die für mich weiterführende Droge hieß „Tales Too Terrible To Tell“. Dieses Fanzine („fan-zine“, Fan-Magazine, eine Zeitschrift von Fans für Fans) erschien in den Jahren 1991-1993 und widmet sich explizit der EC-Konkurrenz. In insgesamt 11 Ausgaben präsentiert George Suarez seine persönliche “Terrology”, ein Kompendium von Pre-Code-Horrorcomics (meint die Zeitspanne von 1950 bis 1955, als der Comics Code in Kraft trat und den Horrorboom beendete).
Mit höchster Akribie hat Suarez kategorisiert, gewertet und gezählt: Welche Verlage haben in welchen Jahren wie viele Horrorhefte veröffentlicht, und welche Serien sind überhaupt Horrorcomics (in Abgrenzung zu den Genres „crime“ und „science fiction“)? Er kommt auf 28 Verlage, die insgesamt ca. 1.450 Hefte herausgebracht haben. Eine brutale Schwemme, die sich kaum vorstellen lässt. Könnten Comicfreunde einen Trip in einer Zeitmaschine buchen, sie würden sich an einen Kiosk der 50er Jahre beamen lassen.
Der Sammler Suarez berichtet, dass er bei der Lektüre der Hefte einen „reluctant respect“ entwickelt habe, also in seiner Wahrnehmung einen „Respekt wider Willen“ erlebte, seine Achtung vor und seine Freude an der EC-Konkurrenz nahmen mit der Zeit immer mehr zu.
Tatsächlich hat das Studium dieser Werke auch bei mir einen Entdeckergeist entfacht. Viele Geschichten sind allerdings nicht der Rede wert, ihre Plots verpuffen, ihr Artwork ist austauschbar, sie sind stillose Verlegenheitslösungen oder illustrierte Seitenfüller. Aber dann stößt man auf solche, die einen innerlich jubeln lassen. Ich teile dabei ein in drei Kategorien:
The Good, The Bad and The Ugly.
„The Good“ sind die wirklich guten Geschichten. Literarisch sauber gestrickt und mit berührenden Charakteren ausgestattet. Das Artwork ist dabei beinahe nebensächlich. Ich kenne unspektakulär gezeichnete Stories, die dennoch memorabel sind, weil sie inhaltlich brillieren. In jedem EC-Heft findet sich wahrscheinlich (mindestens) eine.
„The Bad“ allerdings sind meine Lieblinge. Das sind die blödsinnigen, die rammdösigen, die total hirnrissigen Machwerke. Die unfreiwillig komischen, unmöglichen und absurd grotesken Geschichten. Protagonisten sind meist verrückte Wissenschaftler und irre Künstler, die die Welt vernichten wollen, Killerpflanzen züchten oder sich auch „nur“ eine Frau bauen. Ich bin von Beruf Komiker und habe ein großes Herz für Unsinn jeder Coleur. EC hat sowas nicht produziert. Die „baddies“ sind auch kaum reproduziert („Green Horror“ in FOUR COLOR FEAR ist so eine Ausnahme, auch „Flat Man“ in MR. MONSTER’S HI-SHOCK SCHLOCK Nr.1 von Eclipse Comics sowie „Death Kiss“ aus den TALES TOO TERRIBLE TO TELL Nr. 3), man muss sie wirklich ausgraben. Miserable Dialoge oder Handlungsprämissen jenseits aller Glaubwürdigkeit sind dabei gute Anhaltspunkte. Darum präsentiere ich als meinen Schwerpunkt die echt kranken Dinger zur Belustigung einer staunenden Öffentlichkeit.
„The Ugly“ nenne ich die Geschichten, die auf vordergründige Geschmacksverletzungen hinauslaufen. Die Handlung ist meist fadenscheinig und konstruiert und nur auf das blutige Ende ausgerichtet. Hier spritzt Blut, hier werden Köpfe abgeschlagen, hier werden Körper aufgelöst. Es zählt der reine „shock value“. Suarez hat mit Hingabe solche Stories dokumentiert. Ein Beispiel aus dem EC-Stall wäre wohl „Foul Play“ von Jack Davis.
Auf unserer LESEWIESE habe ich noch die Kategorie „Just Crazy“ addiert – für Geschichten, die ihr Dasein irgendwo im Fegefeuer zwischen Good, Bad und Ugly fristen.
Ich verdanke Suarez (der heute wie damals schon als Herausgeber bei der „New England Comics Press“ arbeitet) die Erweiterung meines Horizonts – über den Kanon von EC hinaus.
Und man lernt neue Künstler kennen, die einen stilistisch erfreuen. Suarez entreißt einen Künstler dem Vergessen, den sonst niemand mehr auf dem Schirm hatte: Rudy Palais. Suarez schreibt ihm Dutzende von Horrorgeschichten aus den Serien „Black Cat Mystery“, „Chamber Of Chills“, „Tomb Of Terror“, „Witches Tales“ (alle Harvey-Verlag) sowie „Horrific“ und „Weird Terror“ (Comic-Media-Verlag) zu.
Palais ist in der Tat wundervoll und zeichnet sich durch drei Besonderheiten aus: A) seine Seiten-Layouts sind oft aufgerissen durch zentrierte Panels oder rahmensprengende Details. B) Gerne ziehen Rauchschwaden durch seine Bilder (an allen Orten, wo Kerzen hinpassen, postiert Palais schwelende Kerzen). C) Seine Figuren schwitzen. Sichtbar und heftig. Egal, ob Männlein oder Weiblein, sie schwitzen. Und zwar nicht mit vornehmen Perlen wie bei ECs Johnny Craig, sondern in langtropfigen Rinnsalen, als hätte sich ihr Haupt in den Brausekopf einer Dusche verwandelt. Sehr eigen und dem Gruselgenre höchst angemessen. Charmant und markant.
Also Faustregel für den Zeichner-Scout: Schweiß + Rauch = Rudy Palais. In seiner frühen Phase (1951/52) hält er sich noch zurück, aber dann bricht es förmlich aus ihm heraus…
Man stelle sich vor, Palais hätte zum EC-Stall gehört. Anstelle von Joe Orlando zum Beispiel. Das hätte gut gepasst. Und Jack Kamen wäre durch Bob Powell ersetzt worden. Und die versprengten Geschichten von Check/ Roussous/ Larsen wären allesamt von Joe Kubert und/ oder Alex Toth illustriert worden. Naja, träumen wird man wohl dürfen…