CROSSED: Der schlimmste Horror aller Zeiten?

Ist diese Serie reiner Sadismus in Comicform – oder doch intelligente Unterhaltung?
Ein Lektürebericht von unserem Till-Mann fürs Grobe

Sitzen wir mal kross zu Gericht über die krasse Serie CROSSED vom Krawallverlag Avatar Press! So dadaistisch-verquer und leger dieser Eingangssatz klingt, so entspannt und distanziert sollte man den Aufreger CROSSED beleuchten.

Geskriptet von Garth Ennis (der mit seinem opus magnum PREACHER die späten 90er-Jahre prägte) und gezeichnet von Jacen Burrows (illustrierte schon Ennis‘ CHRONICLES OF WORMWOOD) war CROSSED im Jahr 2008 ein Versuch, die Grenzen des Zombie-Genres neu zu definieren.
Eine mysteriöse Seuche (deren Herkunft nie erklärt wird) rast um den Globus und wandelt die Infizierten in unmenschliche Bestien: Es genügt eine simple Berührung oder ein In-Kontakt-Kommen mit infizierten Körperflüssigkeiten, um den Betroffenen in Sekundenschnelle (!) pervertieren zu lassen.
Über das Gesicht verbreitet sich (ebenfalls in Sekundenschnelle) ein kreuzförmiger Ausschlag – und dieser Infizierte hat nur noch eines im Sinn, nämlich seine Mitmenschen (infiziert oder auch nicht) zu foltern, zu vergewaltigen, auf möglichst grausame Weise aus dem Leben zu befördern. Und das mit sichtbarem Vergnügen!

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CROSSED geht dahin, wo es noch weher tut: Willkommen im Schlachthaus der Apokalyse!

Wir sehen uns als Leser mit einer neuartigen Alptraumwelt konfrontiert. Die Monster sind keine Menschen, die versterben und dann als hirnlose Untote auf stumpfsinnige Tötungsmission gehen. Die „Gekreuzten“ sind hyperaktive, sadistische Killer.
Mit einem Lidschlag werfen sie alle moralischen Gesetze über Bord und werden zu (noch sehr lebendigen) perversesten Serienmördern. Sie verzehren, verbrennen und zerstückeln (Reihenfolge nach Belieben) Männer, Frauen und Kinder, die sie zuvor planvoll aufgespürt und erjagt haben.

Die ganze Welt der Grausamkeit

Ich weiß nicht, ob das nur mir aufgefallen ist, aber es gibt einen gravierenden Konzeptfehler in CROSSED:  Wenn die Infektion in Sekundenschnelle übergreift, gibt es keine Opfer! Es sei denn, jemand wird aus der Distanz ermordet (erschossen oder mit Schnittwaffen enthauptet, was auch vorkommt). Ein schneller und somit gnadenvoller Tod – im Gegensatz zu langsamen Verstümmelungen, Zerfleischungen, todbringenden Vergewaltigungen.
Auf die Darstellung solcher Gräuel an „Unschuldigen“ legt es CROSSED jedoch oft genug an.
Logisch aber kann das unter dieser Prämisse nicht sein. Welches Opfer auch immer den „Gekreuzten“ IN DIE HÄNDE FÄLLT, wird selbst im Handumdrehen zum Täter.
Der „torture porn“-Schaueffekt der Serie ist damit null und nichtig. Was bei der Lektüre (im Hinterkopf behalten) ein Trost sein kann.

Die jeweiligen Zeichner ergötzen sich an Schock-Szenarien, auch wenn sie eigentlich unlogisch sind. Nur so schaffen sie Verstörung und können noch provozieren. Würden in dieser Serie nur entmenschte Killer andere entmenschte Killer meucheln, betrachteten wir gemalte Tableaus von Blutorgien, aber würden davon weitgehend kaltgelassen.
In CROSSED aber wird eine uninfizierte, entsetzt schauende Mutti auf dem Kindergeburtstag von den mörderischen Kleinen kopfüber aufgehängt, verstümmelt und dann der Mitte nach durchgesägt (ein Cover, das ich Ihnen zu zeigen erspare, es ist leicht übelkeitserregend).
(Heißt auch „BADLANDS Nr. 16, Torture Variant Cover“, na Dankeschön.)

Das ist natürlich ultraharte Kost, schlimmer geht’s nimmer. Es handelt sich hier um keinen Horror-, sondern einen Terrorcomic. Aber natürlich sind auch das nur „Linien auf Papier“, wie schon Robert Crumb sagte. Gewaltfantasien, ja, fragt sich, welche Handlung dahinter transportiert wird.

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Bei CROSSED wird gegessen, was auf den Tisch kommt – Mahlzeit!

Ein Comic richtet keinen Schaden an (auch wenn der gute Dr. Wertham vom Gegenteil ausging). Ein Film tut das auch nicht, auch wenn die Wirkung sicherlich eine andere, womöglich direktere ist. Ich möchte CROSSED nicht verfilmt sehen, ich bin dankbar für die Distanz, die automatisch von Linien auf Papier eingehalten wird.

Um es rezensorisch kurz zu machen: CROSSED ist keine Pflichtlektüre und kein großer Wurf – ich fand es „okay“, so windelweich das klingen mag.
Mit der Erwartungshaltung „krankes Zeug von Garth Ennis“ wird man zufriedenstellend bedient. Die Gewalt schockiert mich, Hingucker-Effekt und kranke Scheiße indeed, verstört mich aber nicht. Die hier ums Überleben kämpfende Menschengruppe wächst mir emotional nicht so ans Herz, dass es mich beuteln täte. Auf der Gegenseite der infizierten Massenmörder begegnen uns skurrile Ennis-Kreaturen, die man eventuell mit schwarzem Humor entschuldigen kann.

Am Ende zieht ein Pärchen mit Hund beinahe kitschig in den Sonnenuntergang (und wären nicht zuvor Dutzende von Charakteren massakriert worden, könnte man es für einen „Meine wahre Geschichte“-Comic halten). Späßle.

Diese erste Reihe sollte eigentlich für sich stehen, doch der Erfolg (und Schlaf der Vernunft?) ließ Avatar Press Fortsetzungen gebären: Diverse Teams führen CROSSED als Franchise-Unternehmen bis heute weiter (allerdings nur noch mit sporadischer Mitwirkung von den Schöpfern Ennis und Burrows).

Neuer Schrecken, alter Meister

Die Sensation ereignete sich 2015, als Alan Moore mit Zeichner Gabriel Andrade die Miniserie CROSSED + ONE HUNDRED beisteuerte. Wundermann Moore schlägt Funken aus dem Stoff, den er einhundert Jahre in die Zukunft verlegt (deshalb plus Einhundert). Ganz langsam und beinahe behäbig führt er uns in eine Zeit, wo letzte Menschen in ökologischen Kleinsiedlungen leben (ohne Strom und immer auf der Suche nach verwertbaren Materialien aus der Vergangenheit).

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Und wieder mal haut mich Alan Moore aus den Latschen. Ein prickelndes Gefühl unterm Hirnkasten verrät mir, dass ich schon wieder ein Moore-Meisterstück genießen darf. Obwohl auch er den schlimmen Logik-Bruch im CROSSED-Konzept verwendet (und sogar handlungstechnisch essenziell braucht).
Wie in den ersten Heften seiner LEAGUE OF EXTRAORDINARY GENTLEMEN (die folgenden Abenteuer sind bei weitem nicht mehr so gut!) bin ich restlos begeistert, was vor meinen Augen entrollt wird. (Eine Rezension der LEAGUE-Omnibus-Ausgabe findet sich hier auf übrigens auf dem COMICOSKOP-Blog, bitte bis Eintrag IX. runterscrollen …

Hauptfigur in CROSSED + ONE HUNDRED ist die Historikerin Future Taylor, die mit einem Erkundungstrupp die Region auskundschaftet: Die Entdeckung von kryptischen Schriftstücken und seltsamen Reliquien wechselt sich ab mit Feuergefechten gegen versprengte „Gekreuzte“.
Die Bedrohung durch die irren Mörder ist in den Hintergrund getreten, da die Gekreuzten zu autoaggressiv für eine planvolle Vermehrung sind. Sie scheinen auszusterben, Betonung auf „scheinen“, denn Taylor findet Hinweise auf eine Vernetzung der verbliebenen Infizierten-„Nester“.

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Es ist schlichtweg genial, wie Autor Moore Puzzlestück um Puzzlestück umdreht, bis sich eine fantastische Erkenntnis ins Bewusstsein frisst. Der Clou ist nämlich der, dass Moore mit einem heimlichen, nicht mehr präsenten Protagonisten operiert.
In Rückblenden (sowie in Taylors Vermutungen) lernen wir Beau Salt kennen, einen Mann, der von der Infektionsplage unberührt blieb!
Warum er das ist, und welcher Plan daraus erwächst, will ich hier nicht verraten. Es ist jedoch ein simpler Kniff, der auch wilden und schwarzen Humor ins Spiel bringt (naja, am Rande, Moore nutzt ihn für fantastische Anekdoten).

Und Alan Moore wäre nicht Alan Moore, wenn er nicht noch einen drauflegte! Wie ein Marktschreier packt Moore seinen Lesern noch Zugabe um Zugabe obendrauf: nicht nur eine spannende Apokalypse mit glaubwürdigem Setting und interessanten Figuren, nicht nur ausgreifend erzählt und grafisch beeindruckend umgesetzt, nicht nur trickreich komponiert und überraschend wie ein Thriller – nein, auch noch geschrieben in einer Sprache, die man sich erst mal erschließen muss!

Moore, der Hund, erfindet mal eben so einen „Zukunftssprech“, der vielleicht ein kleines bisschen lächerlich ist, aber eine weitere Ebene der Authentizität aufschließt, die den Erzähl-Kosmos abrundet. Drunter macht es ein Moore einfach nicht!

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CROSSED + ONE HUNDRED ist ein Hammer, ein brillantes Stück Comicliteratur. Finger weg allerdings, wenn Sie kein Tintenblut sehen können.
Aber was bleibt Ihnen dann noch an Grenzen sprengenden Comics?!
Viele Meilensteine des Mediums sind wüste Thriller, dunkle Dystopien oder blutige Crime-Noir-Stoffe (SIN CITY, WATCHMEN, DARK KNIGHT, 2000 A.D., METAL HURLANT, wahrscheinlich muss man auch SAGA, SCALPED und SPAWN nennen…).

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Darm mit Charme? Nein! Ein Totengeläut in CROSSED-Manier!

Aber nochmal zurück zu den soziologischen Implikationen. Was sagt die Erfindung von CROSSED über unsere Gesellschaft aus? Erleben wir hier ein „Upgrade“ des Mode-Monsters der letzten Jahre?
Der Zombie war einst nur unheimlicher Voodoo-Sklave (I WALKED WITH A ZOMBIE), dann konkrete, doch behäbig agierende Bedrohung (Romeros NIGHT OF THE LIVING DEAD), dann flinker Killer (28 DAYS LATER), dann flutartige Globalkatastrophe (WORLD WAR Z) und schließlich die menschenquälerische Bestie in uns allen (CROSSED)?

Sind die „Gekreuzten“ die neuen Wutbürger? Die ausrastenden Aussteiger? Macht uns der Turbokapitalismus zu Turbosadisten? Eine Welt ohne Gerechtigkeit braucht keine Moral mehr!

Womöglich präsentiert uns CROSSED eine analoge Rettung aus der Digitalgesellschaft.
Apocalypse now! Ist die Sehnsucht nach der Apokalypse eine Erlösungsfantasie aus unserer alltäglichen Entfremdung mit dem Dasein? Wie oft haben SIE bei der Lektüre dieses Artikels nach Ihrem Smartphone gegriffen? Jeder Blick auf IHR Smartphone zaubert MIR einen kreuzförmigen Ausschlag ins Gesicht!

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Wieviel höllischer Wahnsinn passt in ein Bild?

 Alle Abbildungen in diesem Post – © Avatar Press