„Die Verführung der Unschuldigen“ (Seduction Of The Innocent, in Expertenkreisen schlicht „SOTI“ abgekürzt) ist der Titel eines Sachbuchs, das im Jahr 1954 zum Sargnagel für eine blühende US-amerikanische Comicindustrie wird.
Im Untertitel nennt sich SOTI „The Influence Of Comic Books On Today’s Youth“ und macht eindeutig klar, worum es in diesem Buch geht: Das bei Jugendlichen beliebte Comicheft wird an den Pranger gestellt – und für die Verwahrlosung einer ganzen Generation haftbar gemacht.
Das Buch wird zum Medienereignis, eine empörte Öffentlichkeit (Comics = Schmutz + Schund) verlangt Maßnahmen von der Politik. Diese beruft einen Senatsuntersuchungsausschuss zu „Comics und Jugendgewalt“ ein, der wiederum ein Medienereignis wird und Comics weiter in schlechtes Licht rückt.
Am Ende des Jahres 1954 unterwerfen sich die Comicverleger unter dem Siegel der „Comics Code Authority“ einer mächtigen Selbstzensur.
Autor von „Seduction Of The Innocent“ ist der Psychiater Fredric Wertham, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 59 Jahre alt und Darling der Medien, in denen er seit 1948 vor dem schädlichen Einfluss von „comic books“ trommelt.
Wertham tat in etwa das, was heute in Deutschland Menschen wie Thilo Sarrazin mit „Deutschland schafft sich ab“ und Manfred Spitzer mit „Digitale Demenz“ leisten: Simple Erklärungen für gesellschaftliche Missstände liefern und somit öffentliche Erregung schüren.
Untermauert durch viele erschütternde Fallbeispiele (die man auch anders auslegen könnte, wie ich finde) wird ein Feindbild skizziert. Dieses wird sodann in leuchtenden Farben ausgemalt und als Sündenbock für die Verderbnis der Moderne präsentiert. Früher war sowieso irgendwie alles besser.
Dabei ist Wertham kein egomanischer Selbstdarsteller, er ist vielmehr ein „Gutmensch“ wie er im Buche steht: ein aufopferungsvoller, engagierter Doktor und Staatsbürger. Er betreibt die „Lafargue Psychiatric Clinic“ mitten in Harlem und versucht, verhaltensauffällige Jugendliche wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
Wertham will Kinder retten, versteigt sich jedoch in eine eindimensionale Fixierung: Weil seine Problemkinder alle Comics lesen, müssen sie von diesen geprägt und konditioniert worden sein!
Dann beginnt er, sich in die Bilder- und Sprachwelt der Heftchen hineinzufressen. Mit erwachsenem Blick und Bewusstsein entsetzt er sich über die Brutalität der „crime comics“, den Schrecken der Horrorcomics und die Anzüglichkeit von Dschungelabenteuern.
Wertham schießt übers Ziel hinaus und entdeckt homoerotische, faschistische und sadomasochistische Tendenzen in Superheldengeschichten, verborgene sexuelle Bildsprache, besonders verwerfliche Gewalt (sein „injury-to-the-eye-motif“, offenbar ein persönlicher Fetisch) und explizite Handlungsanleitungen für Verbrechen aller Art.
Aus diesem Blickwinkel kann der gute Mann die meisten Comics nur für absolutes Teufelswerk halten.
Wertham fordert jedoch keine Zensur (im Gegenteil!), sondern strikte Einhaltung des Jugendschutzes (Abgabe bestimmter Produkte nur an Personen über 15 Jahren).
Eine Frage steht im Raum, die man stellen sollte:
Hatte Fredric Wertham womöglich Recht?
Zum Teil sicherlich.
Die Scheinheiligkeit und Skrupellosigkeit der Comicverleger kann man durchaus kritisieren. Werbeanzeigen für Waffen und Wundermedikamente ebenso.
Die Sensationsheischerei mancher Titelbilder sicherlich auch. Den waltenden Rassismus und Sexismus sowieso. Und die Widerwärtigkeit einzelner Bilder auf jeden Fall.
Was Wertham allerdings nie beachtete, war:
Transportieren manche Produkte nicht auch hervorragende Trivialunterhaltung?
Arbeiten nicht manche Zeichner an der Entwicklung und Erweiterung eines neuen grafischen Mediums? Begeistern nicht manche Geschichten durch gekonnte Ironie?
Doch der Gutmensch per se steht auf Kriegsfuß mit Ironie, Sarkasmus und Neugier im Allgemeinen. Wertham war der konkreten Auffassung, dass Comiclektüre ihre Leser für die „feineren Genüsse“ verrohen ließe. Dass Comichefte nicht den geringsten Wert besitzen oder vermitteln.
Der Mann hatte sichtlich keinen Sinn für Entertainment.
Aus heutiger Sicht besteht die Ironie darin, dass Wertham den Beginn einer popkulturellen Revolution verschläft. Dass diese kruden Wegwerferzeugnisse die Jugendlichen einstimmen auf die „Tonlage“ einer neuen Ära (wie es zeitgleich auch die Musikkultur mit Rock’n’Roll tut) und eine neue Generation von Künstlern prägt (u.a. George Lucas, Stephen King, Steven Spielberg), ist ihm unvorstellbar.
Die Gegenfrage an Wertham muss lauten: Wie kann es fiktionales Erzählen ohne Drama geben?
Denn Wertham klagt wortreich und ausführlich, dass in „crime comics“ seitenlang Verbrechen geschildert werden, aber nur im Schlussbild das Gute siegt und der Bösewicht bestraft wird.
Das jedoch ist eine sinnlose Klage, denn so funktioniert ein Thriller nun mal – jedes Hörspiel, jedes Krimi-Buch, jeder Spielfilm verfährt nach derselben Dramaturgie. Mit solchen Weinerlichkeiten verwischt Wertham sein nicht unberechtigtes Anliegen und klingt wie eine alte Jungfer, die in jedem Winkel Gespenster lauern sieht.
Dass es ab 1955 tatsächlich (und notgedrungen) ein fiktionales Erzählen ohne Drama gibt, ist die erschreckende Konsequenz aus der eilig ausgerufenen Selbstzensur der Comicverleger. All die Comichefte unter dem Siegel der freiwilligen Selbstkontrolle füllen ihre Seiten mit nahezu fantastischen Konstrukten einer Welt, die mit dem realen Alltag noch weniger zu tun hatten als die abenteuerlichsten Räuberpistolen in den Jahren zuvor (ein schönes Beispiel siehe HIER).
Es ist frustrierend, sich intensiv mit dem Pamphlet des Doktor Wertham zu beschäftigen. Denn nichts weiter als ein Pamphlet ist es. Die Unwissenschaftlichkeit seiner Arbeit ist schon vielfach beschrieben worden (unter anderen sehr gründlich von Adrian Wymann, bei Interesse klicken Sie HIER).
FIFTIES HORROR will jedoch einen Überblick über den Kosmos der 50er Jahre bieten, deshalb sei auf einige Internet-Publikationen hingewiesen. Die Webseite „lostsoti.org“ listet vergnüglich auf, welche Comichefte in „Seduction Of The Innocent“ erwähnt werden (siehe HIER), aber auch, welche Textstellen bei Wertham immer noch schleierhaft sind und (noch) keinem konkreten Heft zugeordnet werden konnten (siehe HIER)
Nicht zuletzt ist das originale Buch unter DIESER Seite im Internet einzusehen.
(Achtung: Die Illustrationen im Text stammen NICHT aus Werthams Buch, sondern wurden „zur Auflockerung und Bebilderung der Lektüre“ vom Gestalter der Webseite eingefügt! Auf diese Beispiele nimmt Wertham Bezug bzw. solche Bilder könnten seine „Inspiration“ gewesen sein.)
„Seduction Of The Innocent“ ist eine mühselige Lektüre, ein redundanter Stiefel. Immer wieder dieselbe Leier. „Gute Literatur“ sei wichtig und beschere ihren Lesern einen Gewinn fürs ganze Leben. Comics verdrehten Kindern den Kopf in ausschließlich schädlicher Weise und reduzierten die Sprache auf „Wham!“, „Blam!“ und „Aarggh!“.
Nach der Lektüre von „Seduction Of The Innocent“ lautet mein Fazit:
STÖHN!
ÄCHZ!
WÜRG!
Tillmann Courth, ehemals Klasse 5a, sozialisiert durch MICKY MAUS, ZACK und MAD.
Nachtrag Februar 2013:
Die Professorin Carol Tilley, Medienwissenschaftlerin an der Universität von Illinois, veröffentlicht ihre Recherche zu Werthams nachgelassenen Aufzeichnungen zu SOTI. Sie fördert zu Tage, dass Wertham weite Passagen seines Buches mit entstellten Zitaten, falschen Daten und manipulierten Fallbeispielen gestaltet hat. Online-Artikel aus dem „News Bureau“ der University of Illinois finden Sie HIER.
Nachtrag Januar 2014:
Der Timely-/Atlas-/Marvel-Fachmann Dr. Michael J. Vassallo präsentiert auf seinem Blog eine überaus erschöpfende Geschichte der Zensurbemühungen. Beginnend mit einem Blick auf die Debatten um „gute Literatur“ im viktorianischen England zeigt Vassallo chronologisch auf, wie die amerikanischen Medien seit dem Jahr 1948 ihre Kampagnen gegen Comichefte führten. Artikel für Artikel (oft im Originalabdruck einsehbar!) lässt sich nachverfolgen, wie Stimmung gegen Comics geschürt wurde. Dieser Online-Quellenschatz findet sich HIER.
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Anhang: Ein Wertham-Beispiel
In Kapitel 14 („The Triumph Of Dr. Payne“) aus SOTI empört sich der Psychiater über eine „Lustmord-Geschichte“, in welcher diversen Frauen diverse Körperteile abgeschnitten werden. Dieser Comic lässt sich unschwer identifizieren als „The Body Maker“ aus Harveys BLACK CAT MYSTERY Nr. 39 (vom September 1952), exquisit illustriert von Warren Kremer. Und richtig, die Handlung wird (in Teilen) korrekt beschrieben: Der missgestaltete Dr. Payn überfällt Frauen und verstümmelt sie.
Wertham erwähnt jedoch nicht, weshalb er dies tut. Dr. Payn will wie Frankenstein (auf den er ausdrücklich Bezug nimmt) ein perfektes Geschöpf erschaffen – eine Bilderbuchfrau, die seine eigene Hässlichkeit vergessen macht. Payn will dieses Wesen nicht als Gefährtin halten und gebrauchen, sondern pure Schönheit kreieren. Also zieht er los und „sammelt“ von verschiedenen Frauen ihre schönsten Körperteile ein. Natürlich ist das entsetzlich und keine Lektüre für Grundschulkinder, aber es ist auch keine „Lustmord-Geschichte“.
Payn kommt auf seiner Mission ums Leben. In einem grotesken Unfall stranguliert er sich in den Haaren seines letzen Opfers. Das ist zwar einerseits an den Haaren herbeigezogen (und darauf wird vom Autor der Geschichte im Schlussbild sogar angespielt), andererseits auch ein „poetic justice“-Finale, wie es im Horrorcomic gang und gäbe war.
Wertham liest „The Body Maker“ als reißerisches und sinnloses Brutalitäten-Kabinett.
Ich verstehe „The Body Maker“ als absurde und schwarzhumorige Frankenstein-Persiflage.
Damit SIE sich ein Bild machen können, veröffentlichen wir hier „The Body Maker“ als Vollscan. Viel Vergnügen (oder auch nicht)…